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Renault steht unter Strom

  • Autorenbild: Blickpunkt TRANSPORTER
    Blickpunkt TRANSPORTER
  • vor 5 Tagen
  • 5 Min. Lesezeit

Eine einzige E-Plattform für drei Transportervarianten


Das Allerheiligste von Renault liegt rund eine Autostunde entfernt vom Zentrum von Paris. Versailles ist gleich um die Ecke. Doch während sich dort das prächtige Schloss mächtig erhebt, duckt sich das Technocentre Guyancourt von Renault einem gelandeten Ufo gleich in die Landschaft, als wolle es sich unsichtbar machen. Mehr als 10.000 Mitarbeiter entwickeln und gestalten hier Autos und Komponenten von morgen. Kein Schritt in dem weitläufigen Gebäudekomplex bleibt unbeobachtet. Wachpersonal sichert sogar den kurzen Weg zwischen Waschraum und Showroom.


Grauer Renault Estafette Van mit schwarzem Dach in einem Showroom. Ein Mann lächelt, legt die Hand auf die Motorhaube. Auf Schriftzug steht "Estafette E-Tech".

Dort steht heute das neue Transporter-Trio aus Renault Trafic, Goelette und Estafette E-Tech. Konsequent auf Elektromobilität ausgelegt. Flankiert von sog. Sitzkisten, begehbaren Modellen der Innenräume. Mittendrin steht wie ein stolzer Vater Renault-Transporterchef Heinz-Jürgen Löw. Sein neues Trio ist noch unfertig. Wer spontan einen Türgriff der drei Transporter anfasst, hält ihn unversehens in der Hand. Und der Blick unter die Karosserie zeigt zB beim Goelette weder echte Fahrwerks- noch Antriebskomponenten oder Batteriekästen. Es wird noch rund ein Jahr dauern, bis die Transporter aus der Fabrik purzeln werden. Aber das Warten könnte sich lohnen.


Nehmen wir den Trafic E-Tech, auffallend schlank und drahtig gebaut. Windschutzscheibe und Fronthaube haben den gleichen schrägen Winkel, es gibt seitlich anschließend an die A-Säule ein großes Van-Fenster. Ein wenig Ur-Espace schimmert bei diesem One-Box-Design durch und die zurzeit beliebte Visier-Optik wird deutlich. Die Karosserie ist hinten seitlich eingezogen, das Dach zum Heck abgeschrägt mit Abrisskante. Dieser Transporter zeigt Figur, einschließlich der weich ausgeprägten Radläufe. Alles sieht nach Feinschliff im Windkanal aus, ähnlich dem großen Bruder Renault Master. Ein Muss für zeitgemäße E-Transporter: Geringer Luftwiderstand heißt weniger Energieverbrauch und größere Reichweite. Das Auge findet Details, vorn zB die hochgesetzten Tagfahrleuchten, verbunden mit einer illuminierten Spange und dem Renault-Rhombus. Oder das von Ecksäulen und dem Dachabschluss eingerahmte Heck.


Verwandt mit dem Master ist auch die fahrerbetonte Grundstruktur des Cockpits mit seinem üppigen quadratischen Touchscreen im Format 12" in der Mitte. Das Lenkrad trägt richtige Tasten, die digitalen Armaturen sind bunt, aber auf den ersten Blick trotzdem recht übersichtlich. Drumherum reihen sich jede Menge Ablagen auf, beginnend mit einer mehrfach geteilten Wanne hinter der Armaturenabdeckung.


Älterer Mann in einem modernen Auto, bedient den Touchscreen auf dem Armaturenbrett. Helles Inneres, zwei Personen im Hintergrund der Halle.

Zu den vielen Überraschungen zählen die Abmessungen des Trafic E-Tech. Wer hätte es gedacht, neue Autos können auch schrumpfen: Die Variante mit kurzem Radstand begnügt sich mit nur 4,87 m Länge, ist 21 cm kürzer als das aktuelle Modell – Vorteil E-Antrieb mit minimalem Überhang vorn. Dank 1,92 m Karosseriebreite ist der Transporter sympathisch schlank und drahtig, mit 1,90 m Höhe recht flach. Die Ausführung mit langem Radstand – 3,55 statt 3,15 m – streckt sich auf 5,27 m. Renault beziffert das Ladevolumen auf 5,1 und 5,8 m³. Ein Hochdach ist – im Unterschied zum aktuellen Modell – nicht vorgesehen. Bereits beim kurzen Radstand passt die Palette mühelos längs durch die Schiebetür, da tun sich Wettbewerber schwer.


Unter der aalglatten Karosserie steckt die völlig neu entwickelte E-Plattform des Renault-Beteiligungsunternehmens Flexis. Man kennt sich: Löw steht dem Aufsichtsrat vor. Das Transporter-Fundament strotzt vor Besonderheiten. Da wäre eine vergleichsweise günstige und haltbare Lithium-Eisenphosphat-Batterie mit einer Kapazität von wahlweise 60 oder 81 kWh. Eine aufwendige 800 V-Architektur sichert zusammen mit maximal 160 kW Ladeleistung rasantes Aufladen. Den E-Motor siedelt Flexis im Bereich der Hinterachse an. Er leistet 150 kW, bringt es auf 345 Nm Drehmoment. Der Stromverbrauch soll sich auf sparsame 17 kWh/100 km belaufen, das ergibt Reichweiten von rund 350 und 450 km nach Norm. Trotz lupenreinem Heckantrieb beschränkt sich die Ladekante auf gut 500 mm Höhe. Heckantrieb bedeutet beladen Traktion und praxisgerechte Anhängelast, von 2 t ist die Rede. Gleichzeitig ermöglicht der Antrieb einen großen Einschlagswinkel der Vorderräder. Daraus resultiert ein Wendekreis von lediglich 10,3 m. Die zulässige Gesamtmasse variiert je nach Baureihe und Modell, erreicht bereits beim Trafic E-Tech bis zu 3,5 t.


Trafic E-Tech und Konsorten sind Software Defined Vehicles (SDV). Das bedeutet zwei Hochleistungs-Zentralrechner statt einer Vielzahl von Steuergeräten und ein eigenes Betriebssystem. Die digitalen Blutkörperchen schießen 50-mal so schnell durch die Stromadern wie bisher. Weitere Vorteile sind firmenindividuelle Angebote für Fahrzeugfunktionen, Apps für die Steuerung des Betriebs spezifischer Funktionen und den Komponenten von Ein- und Aufbauten. Telematiksysteme der Nutzer lassen sich in das bordeigene System integrieren, Fuhrparkbetreiber können aus der Ferne Eingriffe vornehmen. Zusätzliche Fahrzeugfunktionen müssen nicht zwingend beim Erwerb eines Transporters hinzugekauft werden, sie lassen sich nachträglich installieren. Nicht zuletzt sind da eine noch präzisere vorausschauende Wartung in Echtzeit mit Ferndiagnosen, auch Updates Over The Air (OTA) zur fortlaufenden Aktualisierung. Trafic und Co. altern daher nicht, sie reifen.


Die Plattform ist für alle drei Sub-Baureihen identisch. Also auch für den Goelette E-Tech, die Fahrgestellvariante des Trafic. Renault präsentiert ihn als Kofferträger in zwei Varianten ab Werk. Da wäre die hier gezeigte Ausführung als Hochlader mit Ladekante von rund 800 mm, ganz ohne störende Radkästen im Frachtabteil. Unten rundum robust verkleidet, die Aerodynamik, wir ahnen es. Indes noch ohne Dachspoiler vorgestellt. Alternativ gibt es einen Tieflader mit 550 mm niedriger Ladekante, dann aber mit Radkästen im Aufbau. Es gibt beide Radstände, Längen sowie Breite des Goelette entsprechen, das ist ungewöhnlich, exakt dem Kastenwagen. Der Zugang zum Koffer mit seinen 10 m³ Volumen ist variabel: hinten Flügeltüren, seitlich eine große Klappe oder zwei Rolltore, irgendwas wird passen. Für individuelle Lösungen liefert Renault ein Fahrgestell mit Fahrerhaus und als sechssitzige Doppelkabine. Und ab Werk folgt sogar ein Kipper. Alles andere ist ein Fall für Auf- und Ausbauer. Das Cockpit entspricht jeweils dem Trafic E-Tech, weshalb auch ändern.


Das sieht beim Estafette E-Tech ganz anders aus. Er ist konsequent als KEP-Modell für den Zustellverkehr ausgelegt. Das traut sich ab Werk kein anderer klassischer Transporterhersteller. Auch hier tauchen die identischen Grunddaten in Länge und Breite auf, jedoch verwendet Renault ausschließlich den langen Radstand. Estafette heißt Monolith auf Rädern: Der Transporter ist mit 2,6 m hoch aufgeschossen, das verleiht ihm gewöhnungsbedürftige Proportionen und führt zu einem veränderten Design der Front. Zwar sind die Stoßfänger identisch, doch andere Leuchten und Frontplatte sowie eine hohe und steiler gestellte Windschutzscheibe verändern das Antlitz.


Schiebetüren links wie rechts führen ins Cockpit, sehr unauffällig und elegant geführt von außenliegenden Schienen in den Verkleidungen. Auffällig sind dagegen die gut geschützten Schweller und hinteren Ecken, in der Praxis häufig malträtierte Weichteile der Karosserie. Auf der Bordsteinseite ergänzt eine besonders breite Trittstufe den Eingang, das bedeutet mehr Sicherheit beim häufigen Rein und Raus. Auf automatisches Öffnen und Schließen verzichtet Renault. Die massiven Türgriffe sind indes senkrecht montiert, so klappt das Verriegeln mit dem Ellenbogen, falls die Arme voller Päckchen sind. Ein Rolltor im Heck dient in erster Linie dem Beladen im Depot, spart aber auch Platz beim Parken. Seine Lamellen bilden beim Öffnen kein Paket, sie gleiten vielmehr platzsparend an der Decke entlang.


Der Fahrerplatz im Estafette ist auf einem 200 mm hohen Podest angesiedelt, rechter Hand ergänzt durch einen Klappsitz. Drückt der Steuermann eine gelbe Taste in der Mittelkonsole, springt die Warnblinkanlage an und die Schiebetür zum 9,2 m³ großen Frachtabteil öffnet sich. Dort beläuft sich die Stehhöhe auf 1,9 m. Wie sehr sich Renault für das Alltagsleben der Branche interessiert hat, belegt ein Detail: Transporterchef Heinz-Jürgen Löw ist bei drei KEP-Diensten im Alltag mitgefahren. Das schärft den Blick für die Notwendigkeiten in dieser spezifischen Transportwelt, deren Zuwachsraten ungebrochen scheinen.


Jetzt aber ist Geduld nötig. Das Ufo namens Technocentre ist zwar gelandet, doch von der ersten Präsentation im Allerheiligsten von Renault bis zum Start des Trios wird noch ein Jahr vergehen. Und was geschieht mit dem aktuellen Trafic, wenn dann seine elektrischen Nachfolger an den Start gehen? Heinz-Jürgen Löw gibt die Antwort: Renault wird die Verbrenner-Fahrzeuge weiterlaufen lassen, so lange es Nachfrage gibt. Nur der heutige Trafic E-Tech wechselt in den Ruhestand, denn seine E-Nachfolger Renault Trafic, Goelette und Estafette E-Tech stehen unter Strom, überholen ihn mühelos links und rechts.

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