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Der hat noch gefehlt

Der neue eCitan komplettiert das E-Trio der Stern-Transporter.


Mercedes-Benz eCitan

Lorándit ist ein selten vorkommendes Mineral aus der Mineralklasse der Sulfide und Sulfosalze, so weiß es das Internetlexikon Wikipedia. Und setzt dann auf den Spuren des Stoffs zu einem Parforceritt durch die Naturwissenschaften an – verbunden mit dem Hinweis, dass frische Proben von Lorándit von scharlachroter Farbe mit metallischem Glanz seien. Was dies mit dem Mercedes eCitan zu tun hat? Nun, er fährt hier im leuchtenden Lack namens Loranditrot vor.


Auch beim eCitan handelt es sich um eine frische Probe – die erste Citan-Generation musste ohne einen Stromer auskommen. Sein französisches Parallelmodell ist mit einem kleinen Vorsprung auf die Piste gegangen, jetzt folgt der Mercedes für all jene, die einen E-Lieferwagen mit Stern bevorzugen. Weil er besser in den vorhandenen Fuhrpark passt, die Werkstatt näher liegt, ein sympathisches Angebot lockt oder mercedestypische Eigenschaften gefragt sind.


Sie bestehen, abseits der loranditroten Lackierung, zunächst in einem eigenständigen Design der tiefen Nase und der Scheinwerfer. Die Verwandtschaft zu A- und B-Klasse ist unverkennbar. Schon weniger markant sind die dezente Falte auf dem Rücken, der andere Stoßfänger hinten und die Grafik der Rückleuchten, geschenkt. Zwischendrin unterstreichen zwei Merkmale das freundliche Erscheinungsbild der gehobenen Ausstattungsvariante namens Pro. Da wäre eine Abdeckung der Schiebetürführung in Wagenfarbe. Und die ansehnlichen Designräder des eCitan. Sie sehen nach Aluminium aus, bestehen aber aus Stahl. Alus kann man sich daher sparen, schließlich ist ein eCitan mit netto mindestens 32.860 Euro teuer genug. Selbst wenn Mercedes in Österreich bereits im Konfigurator flugs mit einem einen Nachlass von 822 Euro lockt, verdoppelt sich der Tarif schmerzhaft im Vergleich zum Einstiegs-Citan mit Benzinmotor. Überraschung: Der eCitan liegt fast auf den Euro genau auf dem Listenpreis seines günstigsten französischen Zwillingsbruders – ein Mercedes zum Renault-Preis, das gibt’s nicht alle Tage.


Drinnen fühlen sich Sympathisanten des Sterns sofort zuhause. Runde Luftdüsen in Jet-Optik, klassische analoge Instrumente à la Sprinter inklusive Mittendisplay, ebenso die gewöhnungsbedürftige Klaviatur des Multifunktionslenkrads, die Tasten- und Bedienfelder links und in der Mittelkonsole, der altbekannte, von Eingeweihten gern als Ingenieurshebel bezeichnete Lenkstockhebel für Blinker, Fernlicht und sämtliche Scheibenwischer, auch der Wählhebel in der Mittelkonsole – Mercedes pur. Alles eingepackt in vergleichsweise hochwertige und gut verarbeitete Materialien. Auch MBUX steckt drin und gehorcht aufs Wort – nun ja, meistens. Der Monitor in Cockpitmitte ist von überschaubarer Größe und die Kartendarstellung der Navigation unübersichtlich. Also: „Hey Mercedes, Navigation mit Sprachausgabe“ – na also, schon besser.


Angesichts der zahlreichen Stern-Zeichen fällt kaum auf, dass die bequemen, nur etwas kurzen Sitze mit knapper Längsverstellung auch im Parallelmodell zu finden sind, ebenso die Mittelkonsole mitsamt dem klotzigen Ablagekasten und die großen Außenspiegel. Das Thema Sicht verdient genauere Betrachtung. Die nach unten breit auslaufenden A-Säulen behindern den Blick nach schräg vorn. Nach hinten steht der sehr breite Steg zwischen den beiden Fenstern in der Kunststoff-Trennwand zum Laderaum der Aussicht im Weg. Schön wär’s, könnte man einen digitalen Innenspiegel nutzen, wie ihn der französische Partner anbietet, auch Mercedes im größeren Vito. Doch Pustekuchen, nicht für den eCitan. Dabei ist der erste Schritt schon absolviert: Bei Vorwärtsfahrt lässt sich die Rückfahrkamera zuschalten. Allerdings wird der Bildschirm ab 30 km/h wieder dunkel – aus Sicherheitsgründen, meldet ein Text.


Also Test des Parkassistenten. Er sucht und findet zuverlässig eine Lücke, lenkt gekonnt rückwärts hinein. Angesichts des Abstands zum Bordstein runzelt der Fahrprüfer allerdings die Stirn – und lässt den Mercedes danach flink ganz automatisch nach vorne ausparken.


Zurück zu handfesten Themen. Unter der Haube hat ein fremderregter Synchronmotor Platz genommen. Wie erregt dieser Bursche ist, wird beim Tritt aufs Fahrpedal deutlich: Rasant fegt der Mercedes aus den Startlöchern und kennt auch bei der Zwischenbeschleunigung kein Halten, fährt seinen Verbrennerkollegen mühelos um die Ohren – um dann bei 132 Sachen praxisgerecht sanft abzuregeln.


Eine gewisse Sanftheit zählt ohnehin zu den Grundzügen des eCitan. Er fährt selbst für einen Elektriker leise wie auf Samtpfoten, kennt kein Pfeifen oder Singen. Bereits leer benimmt sich das Fahrwerk ausgesprochen zivilisiert. Beladen legt der Komfort noch zu, ohne dass der Mercedes verweichlicht. Allenfalls wippt und nickt er ein wenig um die Querachse. Zwar verträgt der eCitan klaglos hohe Kurvengeschwindigkeiten, doch er lädt eher zu gelassener Fahrweise ein.


Dies kommt auch seinem Stromverbrauch zugute. Laut WLTP-Norm schluckt die getestete Variante eCitan Pro in Standardlänge im Schnitt 18,9 kWh. Voll ausgeladen unterbot der eCitan diesen Wert mit 18,0 kWh auf der anspruchsvollen Teststrecke sogar, mit Extremwerten von nur 12,0 kWh auf der Kurzstreckenetappe und 28 kWh in vollem Galopp auf der Autobahn. In der Regel landet er zwischen etwa 15 und knapp über 20 kWh – Heizung und Klimaanlage abgeschaltet, versteht sich. Wer dem eigenen Temperament nicht traut, drückt auf die Eco-Taste. Das reduziert die Leistung auf 60 kW und auch das Maximaltempo. Zusätzlich lässt sich mit dem Wählhebel die Rekuperation einstellen, vom fast schwerelosen Segelmodus bis zur Einpedal-Fahrweise. Die Normalstellung in Fahrstufe „D“ bremst indes kräftig genug. Und dann wäre da noch der recht dynamische Kriechmodus als Rangierhilfe. Wer den Stromkonsum detailliert verfolgen will, entdeckt neben den Anzeigen im Display weitere Informationen im zentralen Monitor.


Aus all dem resultiert angesichts einer nutzbaren Batteriekapazität von 45 kWh eine Alltagsreichweite von rund 250 km, für einen Lieferwagen angemessen. Serienmäßig lädt der eCitan mit 11 kW an der Wallbox. Auf Wunsch lässt sich das Ladetempo auf 22 kW steigern. Schnellladen bedeutet maximal 80 kW – wobei das Engagement schon nach halber Strecke sehr deutlich und nach etwa dreiviertel gefüllter Batterie stark nachlässt. Für das Ladekabel ist kein Platz vorgesehen, also wird es im Beifahrer-Fußraum mit Füßen getreten oder fliegt im Laderaum herum.


Das Batteriepaket im Untergrund des eCitan wiegt schwer. Daher durfte der Testwagen gerade mal eine halbe Tonne Fracht schleppen, inklusive Fahrer wohlgemerkt. Wer mehr transportieren will, muss zur tragfähigeren Lang-Ausführung greifen. Oder zu einem Anhänger, denn der eCitan darf erstaunliche 1,5 t ziehen. Zum Vergleich: Der bisherige eSprinter kennt den Begriff Anhängelast nicht einmal.


Hinter der Heckklappe – die serienmäßigen Flügeltüren sind im gewerblichen Einsatz praktischer – verbirgt sich ein Laderaum von 2,5 m³. Realistisch gerechnet, das schafft nicht jeder Hersteller. Das Heckportal misst in der Breite 1.260 mm, der Abstand zwischen den Radkästen 1.250 mm. Gutwillige Staplerfahrer zirkeln eine Europalette also quer hinein. Obacht: Die Öffnung im Heck verjüngt sich nach oben, mit hoher Beladung wird’s dann eng.


Und Lorándit? Mit der Zeit läuft das Material häufig bleigrau an, so der Hinweis der schlauen Wikipedia-Autoren. Gehen wir davon aus, dass dem roten eCitan dieses Schicksal erspart bleibt.

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