Vorstellung: Mercedes eSprinter. Der Neue will auf die Überholspur
„Der Führungsanspruch für Elektromobilität ist bei uns fest verankert“ – Benjamin Kähler, Entwicklungschef E-Transporter, wählt die beim Autohersteller mit Stern gewohnten großen Worte. Jetzt sollen ihnen Taten folgen, aus dem Windschatten des bisher etwas matten Einheits-eSprinter tritt eine ganze Flotte hervor, gedopt mit reichlich Vitamin E.
Basis bleibt die gewohnte Hülle des Sprinter, der europäische Bestseller hat schließlich erst fünf Jahre auf dem Buckel und ist allseits geschätzt. Indes entrümpelt Mercedes die bisherige E-Architektur komplett, nutzt beim neuen Ansatz auch die Nähe zu den üppigen E-Autos im Hause und deren Komponenten. Vorbei ist’s daher mit dem Frontantrieb, die Motorhaube wird zur Technikhaube, denn unter ihr nimmt jetzt allein die Hochvolttechnik einschließlich Ladetechnologie Platz. Macht viel Orange für Leitungen, die man besser in Ruhe lassen sollte. Dieses komplette Modul ist bei jedem eSprinter identisch.
Anders das mittlere Segment. Unter dem Wagenboden dehnen sich wie gewohnt Batteriepakete, allerdings in einem gänzlich anderen Format als bisher. Da war bereits bei 47 kWh Kapazität Schluss. Jetzt geht es erst mit 56 kWh los und mit 81 und sogar 113 kWh weiter, Hersteller ist jeweils CATL. Die üppige Ausführung bedeutet Rekord für große Transporter, passt indes nicht zu jeder Variante, ist aber eine echte Ansage für Langstreckler, Zugfahrzeuge oder Bergsteiger. Die Lithium-Eisenphosphat-Akkus mit prismatischen Zellen gehören zur Familie der Lithium-Ionen-Batterien, kommen jedoch ohne das berüchtigte Kobalt sowie Nickel und auch mit wenig Lithium aus. Sie gelten im Vergleich zu anderen Varianten der Lithium-Ionen-Stromspeicher als zyklenfest, im Transporter heißt dies über viele Aufladungen hinweg sehr langlebig. Sie können nicht thermisch durchgehen und vertragen hohe Ladeströme. Demgegenüber steht eine mäßige Energiedichte, sprich ein recht hohes Gewicht und großer Platzbedarf. Die Batteriemodule wiegen je nach Kapazität 470, 620 oder 850 kg. Daraus lässt sich ableiten, warum die dickste Bestückung nur für den eSprinter mit 4,25 t mit langem Radstand verfügbar ist. Er erzielt damit nach WLTP-Norm rund 400 km Reichweite, im Stadtzyklus mit viel Rekuperation durch reichlich Bremsmanöver können es sogar 500 km werden.
Geladen wird an der Wallbox mit 11 kW Wechselstrom. Wer es eiliger hat, nutzt die serienmäßige DC-Schnellladefunktion mit CCS-Stecker und 50 kW. Und da auch dies beileibe nicht fix ist und höchstens für ein paar Notstromkilometer unterwegs genügt, gibt es auf Wunsch noch 115 kW Ladeleistung. Wirklich rasant ist auch dies nicht, von 10 auf 80 % Füllstand dauert es 42 Minuten für den dicken Akku, 28 Minuten für die knappe Ausführung. Der eSprinter geht dabei sorgsam mit seinem Akku um, sein aktives Thermomanagement steuert zB vor dem Ladestart zunächst die Wohlfühltemperatur der Batterie ein. Die Garantie für die Batterie beläuft sich auf das gewohnte Maß von acht Jahren oder 160.000 km auf 70 % der Kapazität. Sie lässt sich mit dem neuen eSprinter jedoch erstmals auf 300.000 km verlängern – beruhigend.
Richtig spannend wird’s eine Abteilung weiter hinten, denn dort kommt eine komplett neue Einheit aus Motor, Getriebe und Achse zum Einsatz. Auch dieses Modul ist über alle Varianten hinweg identisch. Die permanent erregte Synchronmaschine erreicht je nach Ausführung eine Maximalleistung von 100 oder 150 kW, die Dauerleistung beläuft sich auf 80 kW und das Drehmoment in beiden Fällen auf 400 Nm. Da es vom Start weg zur Verfügung steht, sind ausgezeichnete Fahrleistungen sicher. Ebenso hohe Rekuperationsleistungen im Schiebe- und Bremsbetrieb, wenn der E-Motor als Generator dient und Strom zurückgewinnt.
Über ein Einganggetriebe mit Übersetzung von 13,2:1 multipliziert Mercedes das Drehmoment. Somit stehen an der Hinterachse 5.250 Nm zur Verfügung. Das klingt auf den ersten Blick gewaltig, relativiert sich aber beim Blick auf die Diesel-Kollegen: Die entwickeln selbst aus einem schwächeren Drehmoment durch die Übersetzung im Getriebe und nochmals in der Hinterachse deutlich mehr Kraft am Rad. Auch aus diesem Grund sind bärenstarke E-Motoren keine Kür, sondern Pflicht, sonst geht den Transportern an Steigungen oder mit Anhänger schnell die Puste aus. Mit der jetzt gewählten Antriebstechnik kann Mercedes erstmals immerhin bis zu 2,0 Tonnen Anhängelast freigeben.
Die Einheit ist in einem Heckmodul aus Aluminium gelagert, aufgehängt an vier Punkten am Rohbau und somit Teil der gefederten Massen – ein Plus fürs Fahrverhalten. Die Kraftübertragung erfolgt auf eine starre Hinterachse – aber eine veredelte Variante, eine De-Dion-Achse. Oldtimerfreunde kennen sie aus den Opel-Modellen (Kapitän, Admiral, Diplomat) der 1960er-Jahre, innerhalb des Mercedes-Reichs fällt dafür eher das Stichwort des kleinen Smart. Die Achse verfügt über ein stämmiges Achsrohr und eine GfK-Blattfeder.
Dies alles befehligt der Fahrer in einem gegenüber dem Vorgänger weitgehend unveränderten Cockpit, serienmäßig temperiert von einer stromsparenden Wärmepumpe. Neu ist das Lenkrad nebst seiner Tastatur, eher Tastflächen. Bekannt sind die drei Fahrprogramme. Die Höchstgeschwindigkeit ist auf 120 km/h begrenzt, alternativ auf 90 Sachen, beim 4,25-Tonner ohnehin. Auch die vier Rekuperationsstufen zwischen fast schwerelosem Dahinsegeln und Ein-Pedal-Fahren sind eine bekannte Größe, beim Vorgänger erschien diese Komplexität in der Praxis als fast zu viel des Guten. Die Alternative ist neu und heißt D Auto: Dann passt der eSprinter über den sog. Eco-Assistenten die Rekuperation auf Basis der Daten von Assistenzsystemen, Kameras und Navigationsdaten selbsttätig an.
Ebenfalls neu für den eSprinter ist das Infotainmentsystem MBUX neuester Generation mit seiner bekannt guten Sprachführung, rasanter Navigation und dem großen 10,25"-Display. Nützliche Dienste lassen sich über das Portal „Mercedes me“ abrufen. Da wären die Vorklimatisierung, die Begrenzung des maximalen Stromverbrauchs und des Ladezustands oder auch ein digitales Fahrtenbuch. Raffiniert wird’s, wenn der eSprinter in Echtzeit, abhängig von der aktuellen Verkehrslage und Topografie der Route, die Reichweite anzeigt. Wem die Kilometerangabe zu theoretisch ist: Es gibt auch eine Kartendarstellung mit Umrissen der Reichweite, einer sog. Kartoffel. Der eSprinter errechnet außerdem die bestmögliche Ladestrategie, um schnellstmöglich an entferntere Ziele zu gelangen, auch mit dem gewünschten Ladezustand bei der Ankunft – zB halbvoll beim Kundenbesuch oder leer bei der Rückfahrt zur eigenen Wallbox im Betrieb.
Nutzer müssen sich künftig nicht mehr auf die Paketverteilung in der Umgebung beschränken. Im Angebot sind Kastenwagen in zwei Radständen und von 6 bis 7 m Länge sowie die entsprechenden Fahrgestelle. Das Gewichtsspektrum reicht bis 4,25 t zulässiger Gesamtmasse. Noch ein, zwei Eckwerte: Der typische 6 m-Kastenwagen mit der kleinsten Batterie trägt im Serientrimm fast exakt 1 t Nutzlast, mit dem mittleren Akku maximal 830 kg. Die Tragfähigkeit der entsprechenden Fahrgestelle beläuft sich auf 1.190 und 1.375 kg.
Das alles macht den Mund wässrig und für zahlreiche Branchen sowie für Auf- und Ausbauer interessant. Bleibt eher die Frage, was es nicht geben wird: keinen Allradantrieb, keinen Riesen-Kastenwagen im 7,3 m-Format, keine Luftfederung und aufgrund der Konstruktion des Antriebsmoduls auch keine Zwillingsbereifung. Womit gleichzeitig gewichtige Kaliber ausgeschlossen sind.
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